Die Psycho-Logik der Technischen Analyse
Die Technische Chartanalyse aus dem Blickwinkel der Behavioral Finance
Anleger werden mittlerweile aufgrund der zunehmenden Medienvielfalt
durch eine Flut von Informationen überschwemmt. Dies führt zu meist
unbewusst ablaufenden gedanklichen (kognitiven) Mechanismen, um diese Flut
zu kanalisieren und für den Einsatz in der Praxis der Handelsentscheidungen
nutzbar zu machen. Diese Kognitionen werden aber nicht von der Ratio
gesteuert, sondern von psychischen Einflussfaktoren, denen aber wiederum
jeder Mensch in ähnlicher Weise unterliegt.
Die verhaltensorientierte Kapitalmarktanalyse (Behavioral Finance, BF)
untersucht diese allgemeingültigen Verhaltenskonzepte und zeigt, dass es im
Entscheidungsverhalten der Investoren zu systematischen Urteilsverzerrungen
kommt. Diese Irrationalitäten zeigen sich dann folgerichtig in den
Kursverläufen der Aktien und sind damit der Methodik der Technischen Analyse
(TA) zugänglich. Die BF kann damit als das theoretisch–psychologische
Fundament der TA betrachtet werden, welches die empirisch gewonnenen
Erkenntnisse der Charttechnik untermauert. Charts zeigen also emotionale
Muster als Ausdruck der systematischen Urteilsverzerrung der Anleger. Daher
ist die Technische Analyse das ideale Instrument um die Erkenntnisse der
Behavioral Finance in Handelsentscheidungen um zu setzen, d.h. Emotionen
werden handelbar.
Die Grundlagen der Behavioral Finance
Die Prämisse der BF „Der Mensch verhält sich nur begrenzt rational“ steht
dem Begriff des „Homo Oeconomicus“ also des Idealbilds des uneingeschränkt
rational (also nach der klassischen Erwartungsnutzentheorie) handelnden
Menschen entgegen. Die BF untersucht dabei in erster Linie die Psychologie
der Entscheidungsprozesse, also die Aufnahme, Verarbeitung und Verwertung
von Informationen und erklärt psychologisch bedingte Irrationalitäten.
Welchen kognitiven Mechanismen unterliegen wir aber genau?
Der Mensch verwendet gedanklich vereinfachte Darstellungen von komplexen
Sachverhalten (Heuristiken), also eine Art Aussortierung des Überflüssigen.
Hier aber liegt genau das Problem, den wir unterliegen gedanklichen
Vorgängen (Kognitionen) die häufig nach nicht rationalen Gesichtspunkten
auswählen. Menschen selektieren z.B. nach Auffälligkeit der Präsentation der
Information, nach Verfügbarkeit, nach Häufigkeit der Wiederholung etc.
(selektive Wahrnehmung). Diese Erkenntisse werden in der Werbung bereits
seit langem eingesetzt und wurden z.B. in der „Blütezeit“ des Neuen Marktes
in Form von ad hoc Meldungen, Fernsehauftritten u.ä. zur „Kurspflege“
eingesetzt. Oder denken wir nur an in die bis ca. März 2000 vor-herrschende
Meinung „was an den Neuen Markt kommt, muss ja gut sein und steigen“ (eine
Form der Repräsentativitätsheuristik), eine Meinung, die sich momentan ins
Gegenteil verkehrt hat: „was am Neuen Markt ist, kann ja nur schlecht sein
(wieder eine Repräsentativitätsheuristik!).
Als Grundlage zur Erklärung
des Verhaltens von Menschen dient ein schon 1979 von den amerikanischen
Forschern Tversky/Kahnemann entwickeltes Modell zur Verhaltenspsychologie,
welches später auf die Finanz -märkte übertragen wurde, die „Prospect
Theory“., (siehe Abbildung 1). Das bekannte Anlegerverhalten -Verluste
laufen lassen, Gewinne zu früh mitnehmen- lässt sich anhand der
Wertefunktion (Abbildung 1) erklären: Anleger bewerten Ihr Engagement
relativ zum Einstandspreis (Einstandspreisorientierung, Dispositionseffekt).
Dabei tritt das emotionale Phänomen der abnehmenden Sensitivität bezüglich
bestimmter Werte auf, hier z.B. Freude und Ärger Dies bedeutet, dass je
höher der bereits erzielte Gewinn ist, desto relativ weniger freuen wir uns
über einen noch höheren Gewinn, aber auch je höher der Verlust bereits ist,
desto relativ weniger ärgern wir uns über einen noch höheren Verlust („Jetzt
ist es auch schon egal“). Anleger ärgern sich aber auch über anfängliche
Verluste relativ mehr als sie sich über die gleiche Gewinnsumme freuen
(„Loss Aversion“). In Abb. 1 abzulesen an den unterschiedlichen Steigungen
der Kurve im Gewinn (weniger steil) und im Verlustbereich (steiler). Ebenso
zeigen sich die Anleger in Verlustphasen risikobereiter (nachkaufen) als in
der Gewinnzone („Reflection Effect“).
Abb.1: Die Wertefunktion
Aus der Sozialpsychologie kennen wir weiterhin die „Theorie der kognitiven
Dissonanz“. Diese besagt, dass Menschen versuchen Unstimmigkeiten zwischen
Wahrnehmung und Denken durch Manipulation der gedanklichen Vorgänge
(Kognitionen) zu beseitigen. Übertragen auf den Anleger bedeutet dies z.B.,
er nimmt nur Informationen wahr, die ihm „in den Kram passen“ (Selektive
Wahrnehmung). Aber auch schon allein die Angst es könnte zu solchen
kognitiven Dissonanzen kommen, führt dazu, dass Gewinne oft nur deshalb zu
früh realisiert werden, weil der Anleger Angst hat, diese wieder zu
verlieren (Dissonanzantizipation). Dieser Effekt tritt besonders stark in
der Nähe des Einstandspreises auf, also dem steilen Teil der Wertefunktion.
Umgekehrt führt dagegen die erhöhte Risikobereitschaft und die Tatsache,
dass niemand gern sein „Versagen“ zugibt dazu, dass Verluste nach dem
Prinzip Hoffnung ausgesessen werden.
Dabei gilt: Vorsicht vor zu vielen
kleinen Gewinnen!
Auch über diese Psychofalle sollten sich Anleger im klaren sein, denn viele
kleine (zu früh) realisierte Gewinne führen häufig zu dem bekannten Phänomen
der Kontrollillusion. Daraus entwickelt sich aber häufig der Verlust der
Kontrolle, d.h. Überheblichkeit (Overconfidence), zu häufiges Handeln
(Overtrading), zu hohe Einsätze und zu hohe Risikobereitschaft führen dann
zu einem grösseren Verlust (Phänomen der „gelernten Sorglosigkeit“).
Die Psycho-Logik der Technischen Analyse
Wie kann man nun diese Erkenntnisse auf die Technische Analyse übertragen?
Charts machen die oben beschriebenen emotionalen Muster überhaupt erst
sichtbar. Die Existenz von Trends, welche nach der „Random-Walk-Theorie“,
basierend auf der „Hypothese effizienter Märkte“, gar nicht existieren
dürften, wird jetzt durch die BF psychologisch-theoretisch erklärt. Charles
Dow erkannte schon um das Jahr 1900, dass primäre Trends in drei Phasen zu
unterscheiden sind, der Akkumulationsphase (hier sind nur wenige
gutinformierte Anleger im Markt), der Phase der öffentlichen Beteiligung und
der Distributionsphase (hier steigen die ersten gutinformierten Anleger
wieder aus). In der heutigen Informationsgesellschaft dürfte allerdings die
Akkumulationsphase sehr schnell in die Phase der Öffentlichkeit übergehen,
kollektive Handlungsmuster setzen schneller ein, ein Aufwärtstrend wird
„gemacht“. Diese Trends verlaufen immer in Wellen (Swings). Die Verarbeitung
der durch die Medien zur Verfügung gestellten Informationen unterliegt aber
den oben beschriebenen emotionalen Einflüssen. Daher reagieren Gewinner z.B.
aufgrund des Effekts der Dissonanzantizipation schneller mit
(„vorsorglicher“) Glattstellung der Position, während Verlierer (die z.B.
sehr spät eingestiegen sind) aufgrund von Verlustaversion und
Risikoumkehrung später handeln. Somit sind in einer bestimmten Marktphase
mehr Verlierer als Gewinner investiert. Diese haben zudem unterschiedliche
Bezugspunkte (Einstandspreise), aber ähnliche Schmerzgrenzen, ein prmanenter
Verkaufsdruck entsteht. Finden sich ab einem gewissen ermässigten
Preisniveau dann wieder Käufer, setzt sich der Aufwärtstrend fort, fehlen
diese, kehrt sich der Trend um.
Psychologie der
Unterstützungen / Widerstände
Auch die bekannten Kursverläufe in der Nähe von Unterstützungen und
Widerständen, hier rechts schematisch dargestellt, lassen sich
verhaltenspsychologisch erklären.
In jedem Chart kann man lokale Hoch/Tiefpunkte erkennen. Dies zeigt, dass an
diesen Punkten offensichtlich eine Änderung der Marktmeinung eintritt („bis
hierher und nicht weiter“) also ein Wertkonsens aller Marktteilnehmer z.B.
über eine bestimmte Aktie zu diesem Zeitpunkt. Dieser Wertkonsens kann eine
Zeit lang anhalten, die Kurse schwanken um diesen Bereich. Damit erhöht sich
aber auch sukzessive die Zahl derjenigen, die Ihre Einstandspreise (also
ihre Bezugspunkte) in diesem Bereich haben. Fällt der Preis anschliessend
wieder, wird dieser Punkt bei einem erneuten Anstieg der Kurse zu einem
Widerstand durch Verkäufe derjenigen, die froh sind, ihren Einstandspreis
noch mal zu sehen („Mit dem blauen Auge davongekommen“).
Durch den kognitiven Effekt der Dissonanzantizipation verkaufen Anleger also
lieber, aus Angst es könnte wieder zu Verlusten kommen. Erst wenn sich der
Wertkonsens des Marktes ändert, also mehr Käufer von einem weiteren Anstieg
der Aktie überzeugt sind, kann dieser Widerstand durchbrochen werden, der
damit zur Unterstützung wird. Aber immer noch bewegen sich die Kurse in der
Nähe der Einstandspreise. Dieser liegt uns aber emotional näher als der
mögliche ferne Gewinn. Daher werden Positionen schnell verkauft, sobald es
auch nur den Anschein hat, die Kurse könnten wieder sinken.
Dies führt dann zu einem Test der Unterstützung. Der weitere Kursverlauf
hängt wieder von der Marktstimmung ab, mehr Bulle oder mehr Bären, also
Abprall an der Unterstützung oder Durchbruch, das Spiel beginnt von vorne.
Indikatoren oder: Kann man Emotionen berechnen?
Indikatoren sind ein wichtiger Bestandteil der Methodik der Technischen
Analyse. Unterschieden wird in Trendfolge- und Trendstärke-indikatoren,
Oszillatoren und Sentimentindikatoren. Trendfolgeindikatoren, wie z.B. der
MACD, basieren auf der Berechnung gleitender Durchschnittslinien (GDL).
Diese geben die Marktstimmung, also die Emotionen, über einen gewissen
Zeitraum wieder, verdeutlichen also Trends. Die Crossover Methode, also der
Schnittpunkt eines kürzeren mit einem längeren GDL, gibt demnach einen
Hinweis auf einen Stimmungswechsel. Auf GDL basierende Indikatoren sind
schliesslich eine mathematische Verfeinerung dieses einfachen Konzepts.
Oszillatoren (z.B. Stochastik, Momentum, RSI usw.) beschreiben dagegen nicht
die Trends, sondern die „emotionalen Extreme“, also Überkauft- /
Überverkauft-bereiche und geben damit einen Hinweis auf die Änderung der
Marktstimmung. Durch die Ausbildung von Divergenzen können Sie sogar früher
als im Chart sichtbar auf eine Änderung des Sentiments hinweisen.
Candlestick Charts als
bildliche Darstellung der Emotionen
Candlestick Charts eignen sich in besonderer Weise, die psychologischen
Einflüsse an der Börse sichtbar zu machen. Durch die komplette Beschreibung
einer Handelsperiode (High/Low/Open/Close) kann man die Stimmung in dieser
am besten nachvollziehen, und dadurch auch Prognosen für die weitere
Entwicklung ableiten. Candlestick Charts sind aus diesem Grund wohl die
informativste und bei Chartanalytikern am häufigsten verwendete
Darstellungsart. Zwei bekannte Beispiele für Candlestick Muster sind
schematisch hier links dargestellt.
Als Subsummierung all dessen was in diesem Artikel beschrieben wurde,
kann man den Chart rechts unten betrachten.
Es handelt sich um den
Candlestick Chart der Deutschen Telekom (Darstellung des Parketthandels in
Frankfurt, also eher die „Kleinen“) wenige Tage vor und nach ihrem
Allzeithoch am 6. März 2000. Dieser Chart zeigt exemplarisch, wie Emotionen
in extremer Weise einen Kurs beeinflussen. Welche Gier muss geherrscht
haben, um ein Index-Schwergewicht wie die Dt. Telekom in zwei Tagen unter
hohem Volumen um 15% ansteigen zu lassen! Man beachte zudem die Gaps! Und
viele Anleger werden wohl aufgrund ihrer abnehmenden Sensitivität gegenüber
ihren Frustrationen („jetzt ist es auch schon egal“) diese Aktie immer noch
in Ihrem Depot haben. Die Behavioral Finance beschreibt diese Vorgänge
psychologisch, die Technische Analyse visualisiert sie und macht sie damit
für Kursprognosen nutzbar.
Literatur
- J. Goldberg & R. von Nitsch: Behavioral Finance, Finanz-buch Verlag,
3. Aufl., 2000
- J. J. Murphy: Technische Analyse der Finanzmärkte, Finanzbuch Verlag,
2. Aufl., 2001
- Dr. A. Elder: Die Formel für Ihren Börsenerfolg, John Wiley & Sons, 2.
Aufl., 1999
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