Juni 2002

Autor:  Dr. Gregor Bauer

Die Psycho-Logik der Technischen Analyse  
Die Technische Chartanalyse aus dem Blickwinkel der Behavioral Finance

Anleger werden mittlerweile aufgrund der zunehmenden Medienvielfalt durch eine Flut von Informationen überschwemmt. Dies führt zu meist unbewusst ablaufenden gedanklichen (kognitiven) Mechanismen, um diese Flut zu kanalisieren und für den Einsatz in der Praxis der Handelsentscheidungen nutzbar zu machen. Diese Kognitionen werden aber nicht von der Ratio gesteuert, sondern von psychischen Einflussfaktoren, denen aber wiederum jeder Mensch in ähnlicher Weise unterliegt.

Die verhaltensorientierte Kapitalmarktanalyse (Behavioral Finance, BF) untersucht diese allgemeingültigen Verhaltenskonzepte und zeigt, dass es im Entscheidungsverhalten der Investoren zu systematischen Urteilsverzerrungen kommt. Diese Irrationalitäten zeigen sich dann folgerichtig in den Kursverläufen der Aktien und sind damit der Methodik der Technischen Analyse (TA) zugänglich. Die BF kann damit als das theoretisch–psychologische Fundament der TA betrachtet werden, welches die empirisch gewonnenen Erkenntnisse der Charttechnik untermauert. Charts zeigen also emotionale Muster als Ausdruck der systematischen Urteilsverzerrung der Anleger. Daher ist die Technische Analyse das ideale Instrument um die Erkenntnisse der Behavioral Finance in Handelsentscheidungen um zu setzen, d.h. Emotionen werden handelbar.

Die Grundlagen der Behavioral Finance
Die Prämisse der BF „Der Mensch verhält sich nur begrenzt rational“ steht dem Begriff des „Homo Oeconomicus“ also des Idealbilds des uneingeschränkt rational (also nach der klassischen Erwartungsnutzentheorie) handelnden Menschen entgegen. Die BF untersucht dabei in erster Linie die Psychologie der Entscheidungsprozesse, also die Aufnahme, Verarbeitung und Verwertung von Informationen und erklärt psychologisch bedingte Irrationalitäten.

Welchen kognitiven Mechanismen unterliegen wir aber genau?
Der Mensch verwendet gedanklich vereinfachte Darstellungen von komplexen Sachverhalten (Heuristiken), also eine Art Aussortierung des Überflüssigen. Hier aber liegt genau das Problem, den wir unterliegen gedanklichen Vorgängen (Kognitionen) die häufig nach nicht rationalen Gesichtspunkten auswählen. Menschen selektieren z.B. nach Auffälligkeit der Präsentation der Information, nach Verfügbarkeit, nach Häufigkeit der Wiederholung etc. (selektive Wahrnehmung). Diese Erkenntisse werden in der Werbung bereits seit langem eingesetzt und wurden z.B. in der „Blütezeit“ des Neuen Marktes in Form von ad hoc Meldungen, Fernsehauftritten u.ä. zur „Kurspflege“ eingesetzt. Oder denken wir nur an in die bis ca. März 2000 vor-herrschende Meinung „was an den Neuen Markt kommt, muss ja gut sein und steigen“ (eine Form der Repräsentativitätsheuristik), eine Meinung, die sich momentan ins Gegenteil verkehrt hat: „was am Neuen Markt ist, kann ja nur schlecht sein (wieder eine Repräsentativitätsheuristik!).

Als Grundlage zur Erklärung des Verhaltens von Menschen dient ein schon 1979 von den amerikanischen Forschern Tversky/Kahnemann entwickeltes Modell zur Verhaltenspsychologie, welches später auf die Finanz -märkte übertragen wurde, die „Prospect Theory“., (siehe Abbildung 1). Das bekannte Anlegerverhalten -Verluste laufen lassen, Gewinne zu früh mitnehmen- lässt sich anhand der Wertefunktion (Abbildung 1) erklären: Anleger bewerten Ihr Engagement relativ zum Einstandspreis (Einstandspreisorientierung, Dispositionseffekt). Dabei tritt das emotionale Phänomen der abnehmenden Sensitivität bezüglich bestimmter Werte auf, hier z.B. Freude und Ärger Dies bedeutet, dass je höher der bereits erzielte Gewinn ist, desto relativ weniger freuen wir uns über einen noch höheren Gewinn, aber auch je höher der Verlust bereits ist, desto relativ weniger ärgern wir uns über einen noch höheren Verlust („Jetzt ist es auch schon egal“). Anleger ärgern sich aber auch über anfängliche Verluste relativ mehr als sie sich über die gleiche Gewinnsumme freuen („Loss Aversion“). In Abb. 1 abzulesen an den unterschiedlichen Steigungen der Kurve im Gewinn (weniger steil) und im Verlustbereich (steiler). Ebenso zeigen sich die Anleger in Verlustphasen risikobereiter (nachkaufen) als in der Gewinnzone („Reflection Effect“).


Abb.1: Die Wertefunktion

Aus der Sozialpsychologie kennen wir weiterhin die „Theorie der kognitiven Dissonanz“. Diese besagt, dass Menschen versuchen Unstimmigkeiten zwischen Wahrnehmung und Denken durch Manipulation der gedanklichen Vorgänge (Kognitionen) zu beseitigen. Übertragen auf den Anleger bedeutet dies z.B., er nimmt nur Informationen wahr, die ihm „in den Kram passen“ (Selektive Wahrnehmung). Aber auch schon allein die Angst es könnte zu solchen kognitiven Dissonanzen kommen, führt dazu, dass Gewinne oft nur deshalb zu früh realisiert werden, weil der Anleger Angst hat, diese wieder zu verlieren (Dissonanzantizipation). Dieser Effekt tritt besonders stark in der Nähe des Einstandspreises auf, also dem steilen Teil der Wertefunktion. Umgekehrt führt dagegen die erhöhte Risikobereitschaft und die Tatsache, dass niemand gern sein „Versagen“ zugibt dazu, dass Verluste nach dem Prinzip Hoffnung ausgesessen werden.

Dabei gilt: Vorsicht vor zu vielen kleinen Gewinnen!

Auch über diese Psychofalle sollten sich Anleger im klaren sein, denn viele kleine (zu früh) realisierte Gewinne führen häufig zu dem bekannten Phänomen der Kontrollillusion. Daraus entwickelt sich aber häufig der Verlust der Kontrolle, d.h. Überheblichkeit (Overconfidence), zu häufiges Handeln (Overtrading), zu hohe Einsätze und zu hohe Risikobereitschaft führen dann zu einem grösseren Verlust (Phänomen der „gelernten Sorglosigkeit“).

Die Psycho-Logik der Technischen Analyse
Wie kann man nun diese Erkenntnisse auf die Technische Analyse übertragen?
Charts machen die oben beschriebenen emotionalen Muster überhaupt erst sichtbar. Die Existenz von Trends, welche nach der „Random-Walk-Theorie“, basierend auf der „Hypothese effizienter Märkte“, gar nicht existieren dürften, wird jetzt durch die BF psychologisch-theoretisch erklärt. Charles Dow erkannte schon um das Jahr 1900, dass primäre Trends in drei Phasen zu unterscheiden sind, der Akkumulationsphase (hier sind nur wenige gutinformierte Anleger im Markt), der Phase der öffentlichen Beteiligung und der Distributionsphase (hier steigen die ersten gutinformierten Anleger wieder aus). In der heutigen Informationsgesellschaft dürfte allerdings die Akkumulationsphase sehr schnell in die Phase der Öffentlichkeit übergehen, kollektive Handlungsmuster setzen schneller ein, ein Aufwärtstrend wird „gemacht“. Diese Trends verlaufen immer in Wellen (Swings). Die Verarbeitung der durch die Medien zur Verfügung gestellten Informationen unterliegt aber den oben beschriebenen emotionalen Einflüssen. Daher reagieren Gewinner z.B. aufgrund des Effekts der Dissonanzantizipation schneller mit („vorsorglicher“) Glattstellung der Position, während Verlierer (die z.B. sehr spät eingestiegen sind) aufgrund von Verlustaversion und Risikoumkehrung später handeln. Somit sind in einer bestimmten Marktphase mehr Verlierer als Gewinner investiert. Diese haben zudem unterschiedliche Bezugspunkte (Einstandspreise), aber ähnliche Schmerzgrenzen, ein prmanenter Verkaufsdruck entsteht. Finden sich ab einem gewissen ermässigten Preisniveau dann wieder Käufer, setzt sich der Aufwärtstrend fort, fehlen diese, kehrt sich der Trend um.

Psychologie der Unterstützungen / Widerstände
Auch die bekannten Kursverläufe in der Nähe von Unterstützungen und Widerständen, hier rechts schematisch  dargestellt, lassen sich verhaltenspsychologisch erklären.

In jedem Chart kann man lokale Hoch/Tiefpunkte erkennen. Dies zeigt, dass an diesen Punkten offensichtlich eine Änderung der Marktmeinung eintritt („bis hierher und nicht weiter“) also ein Wertkonsens aller Marktteilnehmer z.B. über eine bestimmte Aktie zu diesem Zeitpunkt. Dieser Wertkonsens kann eine Zeit lang anhalten, die Kurse schwanken um diesen Bereich. Damit erhöht sich aber auch sukzessive die Zahl derjenigen, die Ihre Einstandspreise (also ihre Bezugspunkte) in diesem Bereich haben. Fällt der Preis anschliessend wieder, wird dieser Punkt bei einem erneuten Anstieg der Kurse zu einem Widerstand durch Verkäufe derjenigen, die froh sind, ihren Einstandspreis noch mal zu sehen („Mit dem blauen Auge davongekommen“).

Durch den kognitiven Effekt der Dissonanzantizipation verkaufen Anleger also lieber, aus Angst es könnte wieder zu Verlusten kommen. Erst wenn sich der Wertkonsens des Marktes ändert, also mehr Käufer von einem weiteren Anstieg der Aktie überzeugt sind, kann dieser Widerstand durchbrochen werden, der damit zur Unterstützung wird. Aber immer noch bewegen sich die Kurse in der Nähe der Einstandspreise. Dieser liegt uns aber emotional näher als der mögliche ferne Gewinn. Daher werden Positionen schnell verkauft, sobald es auch nur den Anschein hat, die Kurse könnten wieder sinken.

Dies führt dann zu einem Test der Unterstützung. Der weitere Kursverlauf hängt wieder von der Marktstimmung ab, mehr Bulle oder mehr Bären, also Abprall an der Unterstützung oder Durchbruch, das Spiel beginnt von vorne.

Indikatoren oder: Kann man Emotionen berechnen?
Indikatoren sind ein wichtiger Bestandteil der Methodik der Technischen Analyse. Unterschieden wird in Trendfolge- und Trendstärke-indikatoren, Oszillatoren und Sentimentindikatoren. Trendfolgeindikatoren, wie z.B. der MACD, basieren auf der Berechnung gleitender Durchschnittslinien (GDL). Diese geben die Marktstimmung, also die Emotionen, über einen gewissen Zeitraum wieder, verdeutlichen also Trends. Die Crossover Methode, also der Schnittpunkt eines kürzeren mit einem längeren GDL, gibt demnach einen Hinweis auf einen Stimmungswechsel. Auf GDL basierende Indikatoren sind schliesslich eine mathematische Verfeinerung dieses einfachen Konzepts. Oszillatoren (z.B. Stochastik, Momentum, RSI usw.) beschreiben dagegen nicht die Trends, sondern die „emotionalen Extreme“, also Überkauft- / Überverkauft-bereiche und geben damit einen Hinweis auf die Änderung der Marktstimmung. Durch die Ausbildung von Divergenzen können Sie sogar früher als im Chart sichtbar auf eine Änderung des Sentiments hinweisen.

Candlestick Charts als bildliche Darstellung der Emotionen
Candlestick Charts eignen sich in besonderer Weise, die psychologischen Einflüsse an der Börse sichtbar zu machen. Durch die komplette Beschreibung einer Handelsperiode (High/Low/Open/Close) kann man die Stimmung in dieser am besten nachvollziehen, und dadurch auch Prognosen für die weitere Entwicklung ableiten. Candlestick Charts sind aus diesem Grund wohl die informativste und bei Chartanalytikern am häufigsten verwendete Darstellungsart. Zwei bekannte Beispiele für Candlestick Muster sind schematisch hier links dargestellt.

 

 

Als Subsummierung all dessen was in diesem Artikel beschrieben wurde, kann man den Chart rechts unten betrachten.

Es handelt sich um den Candlestick Chart der Deutschen Telekom (Darstellung des Parketthandels in Frankfurt, also eher die „Kleinen“) wenige Tage vor und nach ihrem Allzeithoch am 6. März 2000. Dieser Chart zeigt exemplarisch, wie Emotionen in extremer Weise einen Kurs beeinflussen. Welche Gier muss geherrscht haben, um ein Index-Schwergewicht wie die Dt. Telekom in zwei Tagen unter hohem Volumen um 15% ansteigen zu lassen! Man beachte zudem die Gaps! Und viele Anleger werden wohl aufgrund ihrer abnehmenden Sensitivität gegenüber ihren Frustrationen („jetzt ist es auch schon egal“) diese Aktie immer noch in Ihrem Depot haben. Die Behavioral Finance beschreibt diese Vorgänge psychologisch, die Technische Analyse visualisiert sie und macht sie damit für Kursprognosen nutzbar.

Literatur

  • J. Goldberg & R. von Nitsch: Behavioral Finance, Finanz-buch Verlag, 3. Aufl., 2000
     
  • J. J. Murphy: Technische Analyse der Finanzmärkte, Finanzbuch Verlag, 2. Aufl., 2001
     
  • Dr. A. Elder: Die Formel für Ihren Börsenerfolg, John Wiley & Sons, 2. Aufl., 1999
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Spezialgebiet   Behavioral Finance, Candlestick Analyse
Ausbildung / Werdegang   Dr. Gregor Bauer, Jahrgang 1962, ist heute selbständig tätig im Bereich Vermögensmanagement, als Anbieter von Investmentseminaren und häufig Referent auf verschiedenen Anlegerveranstaltungen. Er ist als Ausbilder beteiligt am EU Project „European online trading“ und publizistisch für verschiedene Zeitungen und Fachjournale tätig. Zudem ist er ehrenamtlich engagiert als stellv. Vorstandsvorsitzender der Vereinigung Technischer Analysten Deutschlands e.V. (www.VTAD.de).

Gregor Bauer studierte Chemie und VWL in Mainz und trat dann eine Stelle im internationalen Marketing / Exportmanagement bei der amerikanischen Öl- und Chemiefirma Phillips Petroleum an. Er beschäftigt sich seit ca. 15 Jahren mit dem Eigenhandel von Aktien und verfügt über langjährige Erfahrungen im Handel von Finanzderivaten.